Mülheim stellt sich quer, Oktober 2019

In der Coronakrise habe ich mich auch verstärkt mit einer Frage beschäftigt, die mich schon seit Jahren umtreibt: Wie möchte ich mich eigentlich über das aktuelle Geschehen informieren? Für 2021 habe ich mir vorgenommen, weniger Nachrichten zu lesen – obwohl ich so viele Abonnements habe wie noch nie zuvor. Kann das funktionieren?

Die Coronakrise hat vermutlich dazu geführt, dass die meisten Menschen so viele Nachrichten wie nie zuvor konsumiert haben. Der Begriff „konsumiert“, den ich vor einiger Zeit im Zusammenhang mit Nachrichten noch sehr unpassend fand, erscheint mir mittlerweile sehr treffend. Spätestens mit dem Aufkommen der Smartphones scheint es einen Wettlauf zu geben, wer die meisten, besten, interessantesten Detailinformationen als erster kennt.

Aber ist es wirklich wichtig, als erster zu erfahren, dass trotz der Pandemie irgendwo in Europa eine illegale Massenparty stattgefunden hat? Reicht es nicht, davon am nächsten Morgen zu lesen, wenn schon ein paar Hintergrundinformationen verfügbar sind? Muss ich es überhaupt wissen? Oder passiert hier nicht tatsächlich dasselbe wie beim Konsum im engeren Sinne – immer als erster das Neuste besitzen zu wollen?

Die Entwicklung bei den Nachrichten ist dabei dieselbe wie allgemein bei der Kommunikation über soziale Medien und Messenger: Immer mehr Breite, immer weniger Tiefe, immer mehr Quantität, immer weniger Inhalt. Es werden immer mehr Nachrichten konsumiert, aber sie werden immer kürzer. Natürlich gibt es kurze Nachrichten, für die wir kein weiteres Hintergrundwissen benötigen. Wenn beispielsweise nach einer Wahl das amtliche Endergebnis vorliegt, reicht das als Nachricht aus, weil wir das nötige Hintergrundwissen, nämlich das Wahlergebnis, schon kennen. In der Regel muss man aber doch sagen: Kurznachrichten sind wertlos. Ohne weitergehende Informationen führen sie nicht zur Möglichkeit einer fundierten Meinungsbildung.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass bestimmte Kreise genau deshalb nur Kurznachrichten konsumieren. Je weniger Hintergrundwissen zusätzlich geliefert wird, desto weniger sind die eigenen Vorurteile in Gefahr. Gerade bei der Diskussion in sozialen Medien, den Vorreitern in Sachen Kurznachrichten, sträuben sich einem die Haare. Eine Tweet von 280 Zeichen reicht vielen als Information schon aus, um sofort eine Meinung dazu zu äußern.

Das ist für mich schon seit längerer Zeit der Grund, Kurzmeldungen nach Möglichkeit nicht zu beachten. Wenn ein Thema für mich neu ist, sind zehn Minuten Lesezeit oft schon zu wenig. Ich beschränke mich daher auf wenige, längere Artikel.

Allerdings ist das Angebot riesig. Ich habe im abgelaufenen Jahr so viele interessante Portale und Blogs kennengelernt, dass ich in der Tat manchmal nicht weiß, was ich denn nun lesen soll. Ich abonniere die WAZ und die Zeit, Buzzard, Krautreporter und Perspective Daily, außerdem die Newsletter von Riffreporter, Flip, Correctiv und Deine Korrespondentin. Und in meinen Browser-Lesezeichen haben sich viele weitere Seiten angesammelt, die ebenfalls lesenswerte Artikel mit Hintergrundwissen im Angebot haben.

Das Problem der Auswahl – und vor allem das Problem, mit dem Lesen aufzuhören – ist bei den Nachrichten genauso gelagert wie bei den sozialen Medien. Immer, wenn man einen Artikel gelesen hat, wartet schon der nächste. Es stellt sich hier wie dort die Frage: Brauche ich überhaupt etwas davon?

Während meine Antwort bei den sozialen Medien klar ist – privat nutze ich sie nicht, s. meine Artikel vom 24.09.2017 und 17.03.2019 – bin ich mir bei den Nachrichten noch nicht so sicher. Kann man vollständig auf Nachrichten verzichten? Es scheint Konsens zu sein, das Wissen und Bildung der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme ist, von der Covid-19-Pandemie über die Klimakrise bis zu Rassismus und Sexismus. Aber ist das wirklich so?

Zum einen führt Wissen nicht zwingend zu den richtigen Schlussfolgerungen. Björn Höcke war Geschichtslehrer, hat aber vermutlich aus der Geschichte vor allem gelernt, dass man mit rechten Parolen vieles erreichen kann. Leider ist das auch so. Die Frage, ob das, was früher geschehen ist, gut oder schlecht war, beantwortet uns nicht die Geschichte. Dazu bedarf es mehr, dazu brauchen wir insbesondere auch Ethik und Moral.

Zum anderen hat Wissen noch nie geholfen, wenn es nicht das Handeln beeinflusst hat. Was nützt es, wenn ich weiß, dass wir wegen Covid-19 Kontakte vermeiden sollten, ich am Ende aber doch alles ausreize, was nicht verboten ist? Was nützt es, wenn ich weiß, dass wir die Klimakrise endlich angehen müssen, ich aber weiter in den Urlaub fliege und auf die Politik warte? Was nützt es, wenn ich ein überzeugter Gegner von Rassismus bin, aber am Ende den Streit scheue, wenn in meiner Umgebung jemand rechte Thesen verbreitet?

Wissen hilft viel weniger als gemeinhin gedacht. Dennoch brauchen wir Wissen – zumindest um unsere nächste Wahlentscheidung richtig zu treffen. Aber kann das wirklich alles sein? Ich bin grundsätzlich ein Freund der repräsentativen Demokratie. Ich arbeite viel und kann mich (mit Ausnahme meines beruflichen Fachgebietes) nicht so tief in Themen einarbeiten, wie es Berufspolitiker können und müssen. Ich habe geradezu Hochachtung vor Politikern, die Entscheidungen zu vielen Themen unter Berücksichtigung vieler verschiedener Aspekte treffen müssen. Das hat auch die Coronakrise gezeigt.

Eine direkte Demokratie wäre für mich keine Alternative, wäre eher Grund zur Sorge als zur Hoffnung. Gerade die Coronakrise hat gezeigt, dass zu viele Menschen fragwürdigen Ansichten anhängen. Womöglich sind das gerade diejenigen, die die meiste Zeit hätten, in einer direkten Demokratie die Entscheidungen zu bestimmen?

Andererseits ist es natürlich bequem, für die Dauer einer Legislaturperiode jede Verantwortung abzugeben und alles nur noch geschehen zu lassen. Und genau in diesem Punkt hat mir ein Interview mit Eitan Hersh über Politik als Hobby (Perspective Daily 19.11.2020) den Spiegel vorgehalten: Auch ich konsumiere die Nachrichten nur, ohne aktiv zu werden.

Allerdings hat das Coronajahr 2020 in diesem Punkt bereits etwas bei mir bewirkt. Nachdem ich 2019 an meiner ersten Demonstration teilgenommen habe („Mülheim stellt sich quer“ gegen einen Bürgerdialog der AfD, Artikel vom 31.10.2019), war ich auch 2020 etwas aktiver als früher, wenn auch immer noch in kleinem Rahmen.

Ich habe mich an Online-Petitionen beteiligt (z. B. zum Flüchtlingslager Moria, zu Julian Assange, zum Schutz des Regenwaldes). Ich habe Mails an Bundestagsabgeordnete, Unternehmen und Ministerien geschrieben (z. B. zu Menschenrechtsverletzungen im Iran). Und außerdem habe ich zumindest zeitweise an einer Online-Demo teilgenommen (Aufzeichnung auf Youtube).

Nun unterstütze ich Campact, einer Bürgerbewegung für progressive Politik. Ein kleiner Anfang hin zu mehr politischer Aktivität.

Daher mein Vorsatz für 2021: Weniger Nachrichten lesen. Den einen oder anderen Artikel links liegen lassen. Mich jedesmal vor der Lektüre fragen, ob ich mich wirklich damit beschäftigen muss. Dafür aber stärker darüber nachdenken, an welchen Stellen ich selbst aktiv werden kann. Weniger lesen, mehr handeln.